Ich möchte heute einmal aus einem anderen Blickwinkel auf dieses Problem schauen. Da ich weiß, dass es bei AD(H)S schnell sehr emotional werden kann, möchte ich klarstellen: Ich bin weder ein Gegner noch ein Befürworter der medikamentösen Therapie. Ich verstehe mich lediglich als Anwalt der Kinder und ihrer Familien, der offen in alle Richtungen schaut.
Fakten zum Thema hyperaktive Kinder oder AD(H)S
Zwischen 2006 und 2011 stieg die Anzahl der Kinder, bei denen ADHS diagnostiziert wurde, um 41% an. 20% der Jungen, die nach 2000 geboren sind, haben die Diagnose AD(H)S und rund 7% der Mädchen. Diese Zahlen stammen von der Barmer GEK, einer großen Deutschen Krankenversicherung. Sie bestätigen mein Gefühl, die Zahl der diagnostizierten Kinder nimmt drastisch zu. Kinder mit ADHS leiden oft auch an LRS und Dyskalkulie.
Bei einem solchen Anstieg eines Krankheitsbildes muss die Frage erlaubt sein – Was läuft hier schief? Würde die Anzahl der Kinder mit Rheuma um die gleiche Zahl ansteigen, würde ein Aufschrei durch die Republik gehen und wir würden nach Ursachen suchen. Bei AD(H)S habe ich den Eindruck, die Diagnose wird manchmal schon mit Erleichterung erwartet, damit endlich etwas passiert.
Denn ohne Frage, die Kinder, die diagnostiziert werden und ihre Familien haben in der Regel bereits einen Leidensweg hinter sich. Auch in der Schule wird es schwierig. Die Frage ist nur, was ist die Ursache dafür? Liegt es wirklich daran, dass sich der Neurotransmitterstoffwechsel bei unseren Kindern so drastisch verändert und immer mehr Kinder hier eine Störung aufweisen? Oder darf man ganz legitimer Weise auch einmal in eine andere Richtung schauen?
Hyperaktive Kinder: Blickwechsel
Während meines lerntherapeutischen Studiums habe ich folgendes gelernt: AD(H)S sei ein Passungsproblem. Hyperaktive Kinder können sich schlecht in die Schule einfügen. Der therapeutische Part bei diesem Problem ist also, diese Kinder so zu therapieren, dass sie ins System passen.
Hm!? Will ich das wirklich? Ist das wirklich sinnvoll? Das sind die Fragen, die sich mir im Laufe meiner Arbeit immer wieder stellten. Je länger ich meinem Job mache, um so klarer beantworte ich sie mit einem Nein!
Könnte die große Zunahme der AD(H)S Diagnosen nicht auch daran liegen, dass wir das System immer enger machen? Dass wir von den Kindern immer größere Anpassungsleistungen verlangen? Wenn ein Kind mit 11 Monaten laufen lernt und das Nächste mit 18 Monaten, dann bleiben wir noch relativ entspannt. Wenn aber nicht alle Kinder mit Schuleintritt die gleiche Konzentrationsfähigkeit und Lernbereitschaft mitbringen, sind sie dann krank?
Kinder werden in der Schule dauernd bewertet und verglichen. Sie verstehen früh, dass sie nicht richtig sind, wie sie sind. Heute beginnt es schon in der Krippe und bereits im Kindergarten gibt es Bildungspläne und feste Strukturen. Was ich durchaus verstehen kann, da sonst kein Mensch bei dem Betreuungsschlüssel, den wir haben, in der Lage wäre, den Tag mit 8-10 Kleinkindern in der Gruppe zu überstehen. Aber Krippenkinder sind kleine Menschen mit individuellen Bedürfnissen. Man kann ihren Schlafrhythmus und ihren Spielrhythmus nicht synchronisieren.
Ein Blick auf das Bildungssystem
Die Schule hat sich seit dem Jahrtausendwechsel stark verändert. Ich beobachte dieses Phänomen nicht nur aus beruflicher Sicht. Meine älteste Tochter ist 1996 eingeschult worden, meine Jüngste 2010. Was sich in diesen 14 Jahren sowohl in den Grundschulen als auch in den Gymnasien verändert hat ist enorm.
Wir haben das G8 bekommen, die 1. Fremdsprache beginnt bereits in der Grundschule und die Wirtschaft fordert eine weitere Stärkung der sogenannten MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) Fächer. In Fächern wie Erdkunde, Biologie und Geschichte, in denen früher mal ein Test geschrieben wurde, stehen heute regelmäßig bereits in der Unterstufe Klassenarbeiten an.
Um die geforderten Inhalte in der zur Verfügung stehenden Zeit zu vermitteln, muss alles nach Plan laufen. Die Kinder müssen funktionieren – von der Krippe bis zum Abitur. Ich bekomme immer mehr Anrufe von Eltern, deren Kinder bereits in der 1. Klasse Schwierigkeiten haben. Eltern, die aufgefordert werden, die Kinder einem Kinderarzt oder Kinder- und Jugendpsychiater vorzustellen, ob nicht AD(H)S im Spiel sei, da der betroffene Erstklässler sich einfach nicht ausreichend konzentriere und aus der Reihe tanze?
Leider weiß ich nur zu gut, welche Schulkarriere dem betroffenen Kind dann oft droht und ich kann die Angst der Eltern sehr gut verstehen. Aber kann ein Psychopharmaka für hyperaktive Kinder die einzige Lösung sein? Ich glaube, wir sollten diese Frage zumindest einmal stellen und überlegen, welche anderen Wege es gäbe! Wagen wir nur einmal die Vorstellung, dass es für die Unaufmerksamkeit und das auffällige Verhalten einiger Kinder auch andere Erklärungen gäbe!
Andere Ursachen für eine Aufmerksamkeitsstörung können z. B. sein:
- Ein Kind mit dem Stoff überfordert.
- Bei den Eltern steht eine Trennung an.
- Die Aufmerksamkeitspanne bei einem Erstklässler ist nur 5 -10 Minuten, er soll aber in einen anderen Rhythmus passen.
- Der Schulstoff ist einfach zu viel.
Hyperaktive Kinder: Schule fürs Leben oder Leben für die Schule?
Welche Dinge könnten denn wichtiger sein als Schule? Diese Frage stelle ich Dir mit der Bitte, Dich in Deine Schulzeit zurückzuversetzen. Mir fallen hier spontan viele Antworten ein. Viel wichtiger ist , dass wir unsere Kinder oft mit dem Schulstoff nicht erreichen. Der Unterricht findet in einer Form statt, der Schüler nicht abholt, sondern von ihnen verlangt, sich auf das einzulassen was kommt – ohne wenn und aber.
Ich verstehe die Lehrer, die ihren Lernplan erfüllen müssen durchaus, aber das hilft den Kindern überhaupt nicht. Das fängt bereits beim Lesen lernen an. Alle Kinder müssen bereits in der 1. Klasse das gleiche Ziel erreichen, d. h. stressiges Lernen von Anfang an. Sonst nehmen wir die Defizitperspektive ein und überlegen, wie wir das Kind wieder ins System einpassen können. Warum reicht es nicht aus, am Ende der Grundschulzeit eine gute Lesekompetenz zu haben?
Ansichten eines Neurowissenschaftlers
Ich bin überzeugt davon, dass heute viel zu schnell der Pfad eingeschlagen wird, an dessen Ende die Diagnose ADHS steht. Dazu passen auch die Kenntnisse der modernen Neurowissenschaften. Gerald Hüther vertritt in seinem Buch Neues vom Zappelphilipp: ADS verstehen, vorbeugen und behandeln (Beltz Taschenbuch / Ratgeber) folgende Aussage:
Die bisherigen Modellvorstellungen über ADHS gingen von einer angeborenen, organischen Störung in Form eines „Dopamindefizits“ im Gehirn aus, die sich nur durch eine medikamentöse Behandlung mit Dopamin-freisetzenden Substanzen korrigieren ließ. Was wir hier an neuen Kenntnissen und neuen Vorstellungen über das „Zappelphilipp-Syndrom“ zusammengetragen haben, ist mit dieser alten Theorie nur noch schwer vereinbar.
– Gerald Hüther
Ich wünsche mir für unsere Kinder, dass
- die Schule wieder mehr Spielraum lässt und jeden abholt wo er steht.
- wir endlich die Defizitbrille abnehmen und auf die Stärken der Kinder schauen.
- wir aufhören Kinder in Schubladen zu packen.
- die Schule für die Kinder da ist und nicht die Kinder für die Schule.
Wenn die Schule so wäre, dann würde sich zeigen, wie viele „hyperaktive Kinder“ tatsächlich Medikamente benötigen, um ihren Alltag in den Griff zu bekommen.
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