Konzentration & Aufmerksamkeit – Warum Kinder sich nicht konzentrieren können
Das Kind kann sich einfach nicht konzentrieren.
Diesen Satz höre ich immer wieder. Sowohl von Eltern als auch von Lehrkräften. Aber auch in meinen Supervsionsrunden mit Kolleginnen und Kollegen kommt das Thema immer wieder auf.
Kinder wirken abgelenkt, springen gedanklich von einem Thema zum nächsten, und es fällt ihnen schwer, längere Zeit auf eine Sache zu fokussieren.
Es scheint, als würden immer mehr Kinder Schwierigkeiten mit Aufmerksamkeit & Konzentration haben.
Gibt es dafür eine Erklärung?
Nach meiner Erfahrung liegt die Antwort nicht in einem persönlichen Defizit der Kinder, sondern im Zusammenspiel aus gesellschaftlichen Bedingungen, neurologischen Prozessen und Beziehungserfahrungen.
Dieser Artikel schaut auf drei Ebenen:
Was passiert gesellschaftlich?
Was passiert im Gehirn?
Was hat das alles mit Beziehung zu tun?
Inhaltsverzeichnis
Digitale Manipulation von Konzentration & Aufmerksamkeit
In einem Artikel für ZEIT Wissen schreibt der Autor Tobias Hürter:
„Es mangelt uns nicht an der Fähigkeit, aufmerksam zu sein. Wir verschwenden unsere Aufmerksamkeit. Wir lassen sie uns stehlen und lassen sie verkümmern.“
Diese Worte bleiben hängen – gerade, wenn man sich mit Kindern beschäftigt, die täglich mit Konzentrationsproblemen zu kämpfen haben.
Aufmerksamkeit bringt Gewinn
Auch der Kognitionspsychologe Klaus Oberauer von der Universität Zürich bestätigt:
„Die menschliche Fähigkeit zur Aufmerksamkeitssteuerung hat nicht nachgelassen. Das Problem liegt in einer Welt, die so gestaltet ist, dass unsere Aufmerksamkeit systematisch umgelenkt wird.“
Was er meint: Aufmerksamkeit ist längst zum Wirtschaftsfaktor geworden.
Wenn wir eine Webseite öffnen, wird im Hintergrund blitzschnell analysiert, was unsere Augen fesselt. Algorithmen entscheiden, welche Inhalte gezeigt werden. Werbekunden zahlen für unseren Blick. Jeder Klick wird zum messbaren Wert.
Der amerikanische Journalist Chris Hayes spricht in diesem Zusammenhang vom „Aufmerksamkeitskapitalismus“ und der Wissenschaftshistoriker Graham Burnett nennt es sogar „digitales Fracking“: Aus unseren Köpfen wird Aufmerksamkeit herausgepresst wie Öl aus Gestein.
Das klingt drastisch. Aber wenn man sich den Alltag vieler Kinder und Erwachsener anschaut, wie oft, wie lange und wie intensiv sie digitalen Reizen ausgesetzt sind, dann ist dieser Vergleich gar nicht mehr so weit hergeholt.
Kinder wachsen mitten in dieser digitalen Realität auf. Und das verändert nicht nur ihr Verhalten, sondern auch ihr Gehirn.
Begriffe kurz erklärt
Dopamin: Ein Neurotransmitter, der bei Belohnung ausgeschüttet wird. Er spielt eine zentrale Rolle im Belohnungssystem des Gehirns.
Neuroplastizität: Die Fähigkeit des Gehirns sich zu verändern und anzupassen durch Erfahrung, Lernen oder wiederholte Reize.
Opponent-Process Theory: Die Theorie, dass auf jedes Vergnügen eine Gegenreaktion folgt. Das Gehirn strebt nach Gleichgewicht.
Neuroadaptation: Der Prozess, bei dem sich das Gehirn an wiederholte Reize anpasst. Die Vergnügensreaktion wird schwächer, die Schmerzreaktion stärker.
Ich-Ohr / Du-Ohr: Zwei Arten des Zuhörens. Das Ich-Ohr filtert durch die eigene Perspektive. Das Du-Ohr versucht zu verstehen, in welcher Welt das Gesagte wahr ist.
Co-Regulation: Die Fähigkeit, durch die eigene Ruhe und Präsenz das Nervensystem eines anderen Menschen zu beruhigen.
Was im Gehirn passiert: Die Lust-Schmerz-Waage
Die Psychiaterin Anna Lembke, Professorin an der Stanford University und Autorin des Buches Dopamin Nation, beschreibt die Wirkung digitaler Reize mit einem eindrücklichen Bild:
Im Gehirn gibt es eine Art Waage. Auf der einen Seite: Lust und Vergnügen. Auf der anderen: Schmerz und Unbehagen. Immer, wenn wir etwas Angenehmes erleben – ein Stück Schokolade, ein Like auf Social Media, ein lustiges Video – wird Dopamin ausgeschüttet. Die Waage kippt zur Seite des Vergnügens.
Aber unser Gehirn mag kein Ungleichgewicht. Wenn die Lust-Seite zu lange überwiegt, reagiert das System. Die Waage kippt zurück – und zwar oft weiter, als uns lieb ist.
Dieses Phänomen wird in der Forschung Opponent-Process-Theory genannt – die Theorie der Gegenregulation.
Was wir als „Lust auf mehr“ erleben, ist eigentlich ein biologisches Bestreben nach Balance. Nach dem zweiten Stück Schokolade folgt der Wunsch nach dem dritten. Nach der letzten Serienfolge bleibt ein Gefühl von Unruhe. Nach dem Scrollen durch Instagram ist da plötzlich Leere – und der Griff zum Handy wieder ganz nah.
Das hat nichts mit Willensschwäche zu tun. Das ist Neurobiologie.
Das Gehirn passt sich an
Problematisch wird es, wenn diese Prozesse zum Dauerzustand werden.
Wenn der Körper immer häufiger Dopamin ausschüttet und sich daran gewöhnt.
Dann beginnt das Gehirn, sich neu zu verdrahten.
Was zu Beginn noch als Belohnung empfunden wurde, verliert seinen Reiz. Die angenehmen Gefühle werden flacher und kürzer. Gleichzeitig wird die Gegenreaktion – also das Unbehagen – stärker.
In der Fachsprache spricht man von Neuroadaptation: Das Gehirn gewöhnt sich an ein hohes Dopamin Niveau und braucht immer mehr davon, um denselben Effekt zu spüren.
Das bedeutet auch, dass Dinge bei denen wir nur langsam Fortschritte machen – wie Lesen, Schreiben und Rechnen – keine Dopaminreaktion erzeugen. Es fühlt sich zäh an, leer und langweilig. Nicht, weil die Kinder faul sind. Sondern, weil das Gehirn auf schnelle Reize trainiert ist und langsame Prozesse, die vor der Belohnung eine große Anstrengung erfordern, kaum noch als lohnend einstuft werden.
Wenn gar nichts mehr Freude macht
Die Neurowissenschaftlerin Nora Volkow hat in Studien gezeigt: Bei dauerhaft hohem Konsum digitaler Inhalte sinkt die Anzahl der Dopamin-Rezeptoren im Gehirn. Die Folge: Nichts fühlt sich mehr richtig gut an.
In schweren Fällen zeigt sich das in Symptomen wie:
Reizbarkeit
Schlafproblemen
Angstzuständen
Antriebslosigkeit
dem ständigen Drang nach dem nächsten „Kick“
Anna Lembke bringt es drastisch auf den Punkt:
„Das Smartphone ist die moderne Injektionsnadel, die digital Dopamin 24/7 liefert.“
Aber – und das ist wichtig – das Gehirn ist formbar. Es kann sich wieder umstellen. Das geht nicht über Nacht. Und es funktioniert nicht mit einem einfachen „Jetzt konzentrier dich mal wieder!“.
Es braucht bewusste Prozesse, Entlastung, Begleitung. Und vor allem: Verständnis.
Konzentration & Aufmerksamkeit als Beiziehungsfaktor
Aufmerksamkeit bedeutet nicht nur, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren.
Es bedeutet auch, sich auf einen anderen Menschen einlassen zu können.
Wie begegnen wir einander? Können wir wirklich zuhören – nicht nur mit den Ohren, sondern mit innerer Präsenz?
Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen unterscheidet zwei Arten des Zuhörens.
Wir können mit dem Ich-Ohr hören oder mit dem Du-Ohr.
Verschiedene Formen des Hörens
Das Ich-Ohr hört vor allem das, was zur eigenen Welt passt. Es blendet aus, was nicht ins eigene Bild passt. Während das Gegenüber noch spricht, beginnt das Ich-Ohr bereits, eine Antwort zu formulieren. Es vergleicht, beurteilt, bewertet. Oft hören wir gar nicht wirklich zu und warten nur auf unseren Einsatz.
Das Du-Ohr funktioniert anders. Es versucht, die Welt aus der Perspektive des anderen zu erfassen. Es hört nicht, um zu antworten, sondern um zu verstehen. Es bewertet nicht sofort, sondern bleibt offen. Es kommt nicht mit schnellen Lösungen, sondern mit echtem Interesse.
Diese Form des Zuhörens ist selten geworden. Aber sie ist kostbar.
Stephen Covey, der Autor von The 7 Habits of Highly Effective People, bringt es mit einem Satz auf den Punkt:
„Erst verstehen – dann verstanden werden.“
Es klingt so einfach. Und ist doch eine der herausforderndsten Übungen überhaupt, in einer Zeit, in der unser Alltag von Ablenkung durchzogen ist.
Wir sitzen im Gespräch, doch unser Kopf ist schon beim nächsten Termin. Das Handy vibriert in der Tasche. Wir nicken, während unser Inneres längst woanders ist.
Mit dem Du-Ohr zu hören, bedeutet: sich Zeit nehmen. Nicht nur nebenbei zuhören, während man tippt oder sortiert. Sondern ganz da sein.
Es bedeutet, das eigene Bedürfnis nach Reaktion einen Moment lang zurückzustellen. Nicht sofort mit einem „Ja, aber…“ zu kommen. Sondern zu fragen:
„Habe ich dich richtig verstanden? Du meinst also…?“
So entsteht Verbindung.
So entsteht echtes Zuhören – und damit Beziehung.
Aber diese Form der Präsenz ist anstrengend. Sie kostet Kraft. Sie fordert uns heraus, innerlich still zu werden. Sie verlangt, dass wir den anderen Raum lassen, ohne ihn gleich füllen zu wollen. Und das gelingt nicht immer. Auch nicht in der Lernbegleitung.
Doch genau deshalb lohnt es sich, es immer wieder zu versuchen. Nicht perfekt, aber bewusst. Denn Kinder spüren sehr genau, ob wir ihnen mit dem Ich-Ohr begegnen oder mit dem Du-Ohr.
Zitierte Autoren
Tobias Hürter: Journalist, Philosoph und Mathematiker. Schreibt für ZEIT Wissen über Wissenschaft und Philosophie. Autor von „Das Zeitalter der Unschärfe“.
Anna Lembke: Psychiaterin an der Stanford University und Leiterin der Stanford Addiction Medicine Dual Diagnosis Clinic. Autorin von „Dopamin Nation: Finding Balance in the Age of Indulgence“.
Klaus Oberauer: Kognitionspsychologe an der Universität Zürich. Forscht zu Aufmerksamkeit und Arbeitsgedächtnis.
Simone Weil: Französische Philosophin (1909–1943). Schrieb über Aufmerksamkeit als Form von Großzügigkeit und spiritueller Haltung.
Bernhard Pörksen: Medienwissenschaftler und Professor an der Universität Tübingen. Entwickelte das Konzept des „Ich-Ohrs“ und „Du-Ohrs“.
Stephen Covey: Amerikanischer Autor und Unternehmensberater. Bekannt für „The 7 Habits of Highly Effective People“. Sein fünftes Prinzip: „Erst verstehen, dann verstanden werden.“
David Brooks: Amerikanischer Journalist und Autor. Schrieb „How to Know a Person: The Art of Seeing Others Deeply and Being Deeply Seen“.
Chris Hayes: Amerikanischer Journalist und MSNBC-Moderator. Autor von „The Siren’s Call: Das Ende der Aufmerksamkeit und wie wir sie zurückerlangen können“.
Graham Burnett: Wissenschaftshistoriker an der Princeton University. Forscht zur Geschichte der Aufmerksamkeit und ihrer Instrumentalisierung.
Nora Volkow: Neurowissenschaftlerin und Direktorin des National Institute on Drug Abuse (NIDA). Forschte zu Dopamin und Sucht.
Bei uns anfangen – warum wir selbst nicht außen vor sind
Es wäre bequem, das Thema Konzentration ausschließlich bei den Kindern zu verorten. Doch wenn wir ehrlich hinschauen, merken wir: Auch wir Erwachsenen haben in dieser schnelllebigen Welt Mühe, unsere Aufmerksamkeit zu halten.
Manchmal reicht ein kurzer Blick auf den Alltag.
Während eines Gesprächs liegt das Handy griffbereit auf dem Tisch. Bei der ersten roten Ampel wandert die Hand wie von selbst zum Display. Abends auf dem Sofa sind wir zwar körperlich da, aber der Kopf springt von einer Nachricht zur nächsten – zwischen Kalender, Nachrichten-App und sozialen Medien.
Diese Form von Zerstreuung ist längst zur Normalität geworden. Und trotzdem hinterlässt sie Spuren. Denn unser Gehirn reagiert auf Wiederholung. Es lernt – und verlernt. Und genau das ist der Punkt: Auch unser Nervensystem passt sich an. Auch wir sind in dieser Welt aufgewachsen, die Aufmerksamkeit in kleine Einheiten zerlegt und ständig neu verteilt.
Wenn wir also über Konzentrationsschwierigkeiten bei Kindern sprechen, sollten wir uns selbst nicht ausnehmen.
Präsenz beginnt bei uns
In der Lernbegleitung sprechen wir oft über Co-Regulation. Gemeint ist damit die Möglichkeit, Kinder durch unsere eigene innere Ruhe zu stabilisieren – gerade dann, wenn sie selbst im Chaos stecken.
Aber diese Wirkung setzt voraus, dass wir selbst präsent sind. Nicht im Sinne von perfekter Ausgeglichenheit, sondern als aufmerksames Gegenüber, das sich spüren kann. Kinder merken sehr genau, ob wir mit unserer Aufmerksamkeit wirklich bei ihnen sind oder ob wir im Kopf schon beim nächsten Termin sind.
Diese Präsenz lässt sich nicht erzwingen. Aber sie lässt sich pflegen. Und sie beginnt nicht mit einem neuen Trick oder einer neuen Technik – sondern mit einem wachen Blick auf uns selbst.
Aufklären, einordnen, begleiten
Natürlich können wir in der Lernförderung nicht alles verändern. Wir können Kindern nicht die Reize dieser Zeit nehmen, und wir können Eltern nicht vorschreiben, wie sie Mediennutzung im Alltag gestalten sollen. Aber wir können Orientierung geben.
Wir können erklären, was im Gehirn passiert, wenn Dopamin zum ständigen Begleiter wird. Wir können deutlich machen, dass das, was oft als „fehlende Motivation“ erscheint, manchmal eine Folge neurobiologischer Überreizung ist. Und wir können den Druck herausnehmen, indem wir zeigen, dass diese Schwierigkeiten kein Defizit sind – sondern ein Zeichen dafür, dass das System an seine Grenze kommt.
Lernbegleitung heißt auch am Ball bleiben
Wenn wir Kinder heute begleiten, begegnen wir einer Lebenswelt, die sich in rasantem Tempo verändert. Digitale Reize, neue Technologien, veränderte Gewohnheiten – all das wirkt auf Kinder ein. Und es wirkt auch auf uns.
Deshalb reicht es nicht mehr aus, nur fachlich gut ausgebildet zu sein. Wir brauchen auch ein Gespür für das, was sich im Hintergrund verändert. Für das, was Kinder heute prägt. Und für das, was wir selbst brauchen, um mit diesen Veränderungen gut umzugehen.
Lernbegleitung ist längst mehr als das Arbeiten am Thema. Sie ist Beziehung, Haltung und stetige Weiterentwicklung – auch auf unserer Seite.
Ein Ort für Austausch, Orientierung und neue Impulse
Damit das gelingt, brauchen auch wir Räume, in denen wir nicht nur leisten, sondern auch fragen dürfen. Räume, in denen wir unsere Erfahrungen teilen, unsere Unsicherheiten zeigen und gemeinsam nach Wegen suchen.
Das FörderNetzwerk Lernen ist genau so ein Ort. Eine begleitete Plattform für Menschen, die in der Lernförderung arbeiten – und dabei nicht nur Methoden suchen, sondern Verbindung.
Dort geht es nicht um den nächsten Methodentrend, sondern um das, was uns im Alltag trägt: ein klarer fachlicher Rahmen, kollegialer Austausch und Werkzeuge, die im echten Leben funktionieren.
Wenn dich das anspricht, kannst du dich auf die Warteliste setzen lassen. Im November öffnen wir wieder die Türen für neue Interessierte.
Eine Antwort
Vielen Dank für deine wertvollen Inputs!
Sie sind immer sehr interessant!