Vorlesen ist Leseförderung
Es war ein verregneter Dienstagabend, und ich las meinem Sohn – inzwischen Sechstklässler – zum gefühlt hundertsten Mal aus „Harry Potter und der Halbblutprinz“ vor. Ja, wir sind mittlerweile bei Band 6 angekommen. Er war müde, die Schule war anstrengend. Doch während ich las, spürte ich, wie er sich entspannte. Seine Schultern sanken, seine Stirn glättete sich – und er stellte plötzlich eine Frage, die mich staunen ließ: „Mama, warum vertraut Dumbledore Snape eigentlich so sehr?“
In diesem Moment wusste ich: Das Vorlesen war nicht nur Trostpflaster, es war Türöffner. Für Sprache. Für Verstehen. Für Lesekompetenz.
Warum „einfach mehr lesen“ in der Leseförderung zu kurz greift
Viele Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten bekommen diesen gut gemeinten Rat: „Er soll einfach mehr lesen.“ Und ja, Übung ist wichtig. Aber was, wenn Lesen für ein Kind wie ein Gebirge erscheint – zu hoch, zu steil, zu unübersichtlich?
Dann kann Vorlesen eine Brücke sein. Eine sanfte, tragende Verbindung, die Kinder dort abholt, wo sie stehen – und sie Schritt für Schritt an komplexe Sprache heranführt.
Denn beim Vorlesen passiert mehr als nur „Geschichten hören“:
Kinder tauchen in Sprachwelten ein, bevor sie selbst lesen können.
Sie erleben Sprachmelodie, Satzbau und neue Wörter in einem sicheren Rahmen.
- Sie lernen, zuzuhören, mitzudenken – ohne von der Technik des Lesens überfordert zu sein.
Lesekompetenz: Ein Kreislauf aus Technik, Verstehen und Tiefgang
Das Ziel der Leseförderung ist Lesekompetenz. Und die ist wie ein Kreis mit drei Schichten:
Zuhören & Sprachverstehen: Hier beginnt alles. Kinder erweitern ihren Wortschatz, verstehen Zusammenhänge, trainieren ihr Sprachgefühl – durch Geschichten, Gespräche, Vorlesen.
Lesetechnik: Das Handwerkszeug des Lesens – Buchstaben, Laute, Wörter, Satzstruktur. Ohne Technik kein Text – aber Technik allein reicht nicht.
Tiefes Textverständnis: Das eigentliche Ziel. Kinder sollen nicht nur entziffern, sondern begreifen. Rückfragen stellen. Verknüpfen. Reflektieren.
Und genau hier setzt Vorlesen in der Leseförderung an: Es schafft Verständnis, bevor die Technik greift – und bereitet damit den Boden für echte Lesekompetenz.
Wissenschaftlich belegt: Die Wirkung des Vorlesens in der Leseförderung
Vielleicht denkst du: Klingt schön – aber bringt das wirklich was?
Die Antwort der Forschung ist klar:
Kinder, denen regelmäßig vorgelesen wird, hören bis zum 5. Lebensjahr bis zu 1,4 Millionen Wörter mehr als andere. (Logan et al., 2019)
Auch im Grundschulalter hat regelmäßiges Vorlesen positive Effekte – auf Wortschatz, Lesefähigkeit und Textverständnis. (Ennemoser et al., 2013)
Besonders wirkungsvoll: Dialogisches Lesen – also nicht nur vorlesen, sondern gemeinsam denken, fragen, entdecken.
Lesen lernen durch Beziehung: Lernen am Modell
Vielleicht kennst du das Zitat von Jesper Juul:
„Kinder machen nicht das, was wir sagen, sondern das, was wir tun.“
Wenn du selbst mit Freude liest, Fragen stellst, überlegst – dann lernen Kinder nicht nur Techniken, sondern Haltungen. Sie erleben: Lesen ist wertvoll. Denken ist erlaubt. Sprache verbindet.
Albert Bandura nannte das „Lernen am Modell“ – und es funktioniert. Nicht durch Druck, sondern durch echtes Vorleben.
Praxisimpuls: So stärkst du Lesekompetenz beim Vorlesen – am Beispiel von Harry Potter
Ein kleiner Leitfaden – ganz konkret, zum Ausprobieren:
1. Vor dem Lesen
Aktiviere Vorwissen und wecke Neugier:
„Was erinnerst du noch aus dem letzten Kapitel? Warum war Dumbledore so geheimnisvoll?“
Lass das Kind Vermutungen anstellen:
„Was glaubst du, was es mit dem Horcrux auf sich hat?“
2. Während des Lesens
Denk laut und stell offene Fragen:
„Warum reagiert Harry so wütend auf Snape? Fühlt er sich vielleicht ohnmächtig?“
So wird das Kind nicht nur Zuhörer, sondern Mitdenker.
3. Nach dem Lesen
Reflektiert gemeinsam:
„Was würdest du an Harrys Stelle tun? Wem würdest du vertrauen?“
Vielleicht erzählt das Kind von einer Situation, in der es sich selbst allein oder übergangen gefühlt hat.
So werden Geschichten zu Gesprächsanlässen – und Lesen wird mehr als Verstehen: Es wird ein Spiegel für eigenes Denken und Fühlen.
4. Immer wieder
Mach das Denken sichtbar – nicht nur das Vorlesen. Sag ruhig, wenn dich eine Stelle überrascht oder verwirrt. Zeig dem Kind, dass Verstehen ein Prozess ist – kein Wissenstest.
Häufige Fragen zum Thema Vorlesen und Lesekompetenz
Ab welchem Alter macht Vorlesen Sinn?
Schon Babys profitieren vom Vorlesen – nicht wegen des Inhalts, sondern wegen der Stimme, dem Rhythmus, der Nähe. Je früher, desto besser.
Soll ich auch älteren Kindern noch vorlesen?
Ja! Auch Grundschulkinder – und manchmal sogar Jugendliche – profitieren vom Vorlesen. Besonders Kinder mit Leseproblemen erleben so Sprache, ohne über die Technik zu stolpern.
Wie lange sollte ich täglich vorlesen?
Schon 10–15 Minuten am Tag machen einen Unterschied. Entscheidend ist nicht die Länge, sondern die Regelmäßigkeit – und dass es ein gemeinsamer Moment wird.
Ist es schlimm, wenn mein Kind beim Vorlesen nicht still sitzt?
Nein. Manche Kinder hören besser zu, wenn sie dabei malen, kuscheln oder sich bewegen dürfen. Achte auf Signale: Wenn es Fragen stellt oder mitdenkt, ist alles gut.
Was ist der Unterschied zwischen „normalem“ und dialogischem Vorlesen?
Beim dialogischen Vorlesen beziehst du dein Kind aktiv ein: durch Fragen, Gedanken, Mutmaßungen. Es geht nicht nur ums Hören – sondern ums Mitdenken.
Und jetzt du:
Vielleicht denkst du jetzt, ich kann doch in der Lerntherapie nicht einfach vorlesen?
Nicht nur aber du kannst es durchaus mit einfließen lassen, und du kannst Eltern ermutigen, ihren Kindern vorzulesen. Auch noch in der 6. Klasse.
Das bedeutet nicht, dass das Kind nicht mehr üben soll, aber es soll auch einen anderen Zugang zu Informationen bekommen.
Und es soll neben dem Üben, das bekanntlich für viele Kinder mit Leseschwierigkeiten mit Anstrengung verbunden ist, auch schöne Leseerfahrungen machen.
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