Ich möchte noch kurz vorwegschicken, dass ich mich in meinem Masterstudiengang intensiv mit dem Thema beschäftigt habe und auch meine Abschlussarbeit zu diesem Thema verfasst habe.
Jedes Kind muss Lesen lernen!
Die Kinderbuchautorin Kirsten Boie hat diese Petition gestartet. Die Forderungen, die sie darin an die Bildungspolitiker stellt, sind berechtigt und ich stimme ihnen vollkommen zu.
Nicht aber der Überschrift. Alle, die ein betroffenes Kind haben, wissen, dass es trotz aller Geduld, liebevoller Unterstützung und 1:1 Förderung Kinder gibt, die eben nicht wirklich flüssig Lesen lernen.
Dieser Artikel ist zunächst einmal an alle gerichtet, die gerade in dieser Situation stecken.
Ihr habt nichts falsch gemacht, wenn es bei Eurem Kind so ist!
Aber auch an alle die, die meinen, dass
- nur das geschriebene Wort Bedeutung hat.
- die aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben vom Lesen abhängig ist.
- eine Auseinandersetzung mit einem gesprochenen Text weniger Wert ist, als die mit einem geschriebenen Text.
Lesen lernen ist eine Kulturtechnik
Lesen lernen ist eine Kulturtechnik wie Geige spielen oder Schreiben lernen. Noch vor 200 Jahren war das Lesen lernen einer privilegierten Schicht vorbehalten. Damals warnte übrigens ein Pädagoge namens Bauer vor dem verderblichen Einfluss, den das neumodische Lesen auf Jugendliche und auch – man staune – Frauen habe. Lesen lernen hat erst im 20. Jahrhundert an Bedeutung gewonnen.
Noch in den 1990er Jahren war eine extreme Lesestörung für viele Kinder das Aus ihrer schulischen Karriere, auch bei Kindern mit einem hohen IQ.
Die Welt hat sich gewandelt und Hörbücher, Textverarbeitung und Leseprogramme sind nicht mehr aus der Welt zu denken. Und das ist gut so!
Wie moderne Technik beim Lesen lernen helfen kann
Alle, die ein betroffenes Kind haben oder mit betroffenen Kindern arbeiten, wissen, wie häufig die Quälerei beim Lesen lernen dazu führt, dass die Motivation komplett verloren geht.
Schon die Erwähnung der täglichen Leseübungen kann die Stimmung für den Rest des Tages verderben.
- Ist es das wert?
- Oder ist das hilfreich?
- Und ist das wirklich erforderlich?
Ich sage nein!
Wir sollten die Mittel nutzen, die wir haben, um es den Kindern leichter zu machen.
Textverständnis vs. Hörverständnis
Gehen wir doch mal weg von dem Gegensatz und stellen es gleichwertig nebeneinander.
Textverständnis und Bildung entstehen nicht durch das Lesen alleine. Textverständnis entsteht durch das Nachdenken über das Gelesene und auch dadurch, dass wir über das Gelesene sprechen. Eine beliebte Übung bei meinen Schülern ist es, mir Fragen über ein Buch zu stellen.
Die Bildung kommt nicht vom Lesen, sondern vom Nachdenken über das Gelesene.
Carl Hilty (Schweizer Staatsrechtler)
Wir lesen dann beide das gleiche Buch und ich beantworte hinterher Fragen dazu. Was glaubt Ihr, wie tief die Kids oft in den Inhalt einsteigen, um Fragen zu formulieren, die ich nicht beantworten kann?
Das gleiche funktioniert aber auch bei einem Hörspiel, Hörbuch oder Film. Ich kann mit meinem Kind genauso gut über die Inhalte eines Hörbuchs reden und Fragen stellen. Selbst Benajmin Blümchen eignet sich dazu. Es gibt keine gute und schlechte Literatur in diesem Sinne. Der Inhalt muss dem Kind Spaß machen, seine Phantasie anregen und ich kann das als Mutter dann begleiten, indem ich mich mit denselben Inhalten befasse.
Hörbücher als Lesehilfe
Wenn ein leseschwaches Kind dem Unterricht nicht folgen kann, weil es den Inhalt der Klassenlektüre nicht versteht, dann sollte man dem Kind das Buch als Hörbuch anbieten. Das ist viel besser als seine ganze Aufmerksamkeit auf den Leseprozess zu verwenden und inhaltlich sowenig zu verstehen, dass das Kind sich nicht am Nachdenken und Sprechen über den Text beteiligen kann.
Dabei ist es übrigens sehr hilfreich, das Hörbuch zu hören und gleichtzeitig den Text leise mitzulesen. Dieses Vorgehen ist in den USA durchaus populär bei Kindern mit Leseproblemen.
Oft bekomme ich dann gesagt, dass es ja nicht die gleiche Ausgabe als Hörbuch gibt, die die Klasse verwendet. Das mag stimmen, aber ist das für den Inhalt nicht zweitrangig? Krabat bleibt Krabat – auch wenn die Zitate auf einer anderen Seite stehen. Sollte aber einem Lehrer eine Ausgabe ganz besonders am Herzen liegen, gibt es ja auch noch andere Möglichkeiten. Zum Beispiel kann man den Exam Pen nutzen. Dieser Stift mit integriertem Kopfhörer liest Texte vor und kann so auch bei Textaufgaben hilfreich sein.
Guckt man sich die Methode von Vera Birkenbihl zum Erlernen von Fremdsprachen an, scheint das ein guter Ansatz zu sein. Das betroffene Kind trainiert leise mitlesend, versteht den Inhalt über den auditiven Kanal und kann sich so gut am Unterrichtsgeschehen rund um den Inhalt des Textes einbringen und so auch über den Inhalt nachdenken. Was letztendlich wieder das Verstehen fördert – auch wenn der Inhalt über den auditiven Kanal dargeboten wird.
Mein Kind kann lesen – will aber nicht!
Auch das ist eine Aussage, mit der ich immer wieder konfrontiert werde. Es gibt Kinder, die einfach null Motivation zum Lesen haben. Sie können zwar dem Unterrichtsgeschehen folgen und lesen auch so einigermaßen, aber jedes Wort, das sie zusätzlich lesen sollen, löst einen empörten Aufschrei aus. Viele Eltern versuchen dann Lesezeiten zu verhandeln, mit Belohnungen zu locken oder im Extremfall sogar zu schimpfen und Fernseh- oder PC-Verbote zu nutzen. Der Erfolg ist meist mäßig und das Thema Lesen wird nicht gerade beliebter. Ich habe bisher keine Leseratte erlebt, die durch Zwang zum Gerneleser geworden ist.
Aber das Lesen ist doch so wichtig!
Ist es das wirklich? Ich bin überzeugt, dass wir uns auch hier dem gesellschaftlichen und technischen Wandel nicht verschließen können und dürfen. Wenn das Hörbuch die Wahl des Kindes ist, dann ist das so. Auch ein Hörbuch oder Hörspiel vermittelt Inhalte und wenn ich dann mit meinem Kind über diese Inhalte spreche, das Hörbuch als gemeinsames Erlebnis nutze oder gar meinem 6. Klässler noch vorlese, dann rege ich ihn an, über Inhalte nachzudenken.
Da schließt sich für mich der Kreis. In Abwandlung von Hiltys Zitat gilt:
Die Bildung kommt nicht vom Lesen oder Hören, sondern vom Nachdenken über das Gelesene oder Gehörte.
Ich weiß, dass dieser Gedanke vielleicht neu ist und uns, die wir mit dem Buch als Bildungsquelle aufgewachsen sind, befremdlich erscheint. Trotzdem werden wir die Uhr nicht zurückdrehen.
Ich kenne mittlerweile einige Kinder, die – nachdem der Druck aus dem Thema raus war – das Lesen doch noch für sich entdeckt haben.
In diesem Sinne Wünsche ich der Petition von Kirsten Boie (die ich auch schon unterstützt habe) sehr viel Erfolg.
Für mich muss es jedoch heißen: Jedes Kind muss die Möglichkeit bekommen, lesen zu lernen!
Ich wünsche Euch allen viel Spaß beim Lesen, Hören oder Schauen und besonders beim Nachdenken und Sprechen über die Inhalte.
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